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Eine Sepsis-Geschichte

Eigentlich begann alles so, wie Lisa, 24, sich das vorstellte. Mit „Sonne im Herzen“, dem Motto für das kommende Wochenende. Alles war organisiert, ein Treffen mit Freunden in Hamburg, auf dem „Schlagermove“ auf der Reeperbahn in St. Pauli. Der Urlaub war eingereicht, das Hotel gebucht, die Vorfreude groß - obwohl Lisa sich eigentlich nicht viel aus Schlager macht, aus diesem Karneval. Doch zwei Tage vorher spürte Lisa wie aus dem Nichts diese Mattigkeit, dieses Frösteln.

Erst dachte sich Lisa nichts dabei. Ein bisschen Halsweh, linksseitig, anders als bei der gerade überstandenen Mandelentzündung, ein bisschen Gliederschmerzen. Nicht der Rede wert. Schon dich, rät ihre Mutter, raten ihre Freunde, dann ist zur Abfahrt alles okay, ist sicher nur eine Erkältung.

Lisa holt sich etwas Pflanzliches aus der Apotheke, kocht sich Tee, legt sich ins Bett. Vielleicht die Lymphknoten, sagt ihr Arzt. Zuviel gearbeitet in letzter Zeit, denkt Lisa, dazu der Stress vom Umzug in die neue Wohnung. Gegen das leichte Fieber nimmt Lisa Ibuprofen. Einfach ein bisschen die Augen zumachen, denkt sie, einfach ein bisschen Ruhe. Wird schon gutgehen, mit Hamburg.

 

„Einfach ein bisschen die Augen zumachen, denkt sie, einfach ein bisschen Ruhe.“
 

Und das tut es auch, am Anfang. Sie fühlt sich immer noch matt, ihr Hals kratzt etwas. Aber sie will ihre Freunde nicht enttäuschen, auch nicht sich selbst. Wird ihr guttun, diese kleine Auszeit - Lisa berät Kunden für Wohnmöbel und Deko, sie mag das. Und die Tabletten, denkt sie, müssen doch langsam mal helfen.

Sie helfen nicht. Lisa fühlt sich weiterhin müde. Eine Kneipentour über die Reeperbahn bricht Lisa ab. Aber morgen, wenn die Musiktrucks durch die Stadt rollen, wenn Hunderttausende auf dem Heiliggeistfeld tanzen, ist bestimmt alles überstanden. Das Fieber steigt, Lisas Optimismus sinkt, Wolken schieben sich vor die Sonne. Ins Krankenhaus möchte Lisa nicht...

 

 
„Die Tabletten müssen doch langsam mal helfen.“

Und das tut es auch ... am Anfang

Lisa fühlt sich matter und matter – trotz des Ibuprofens, das aber nicht hilft. Das Fieber ist jetzt deutlich zu spüren, und es steigt. Das beunruhigt Lisa. Sie hat fast nie Fieber und wenn, dann nicht so hoch.

39 Grad misst der Notarzt, den ihre Freunde riefen. Eigentlich will sie gar nicht, dass er kommt. Aber ihre Freunde reden ihr eindringlich und besorgt zu. Sie spüren besser als Lisa, wie schlecht es ihr geht. Schließlich willigt Lisa ein. Nicht, weil sie denkt, dass es nötig ist. Eher, damit ihre Freunde nicht denken, dass ihr Rat nicht zählt.

 

 

Der Arzt kommt. Aber er tut nicht viel. Er liest sein Thermometer ab. Er empfiehlt Lisa mal Novalgin zu nehmen. Grippaler Infekt, sagt er. Was in Lisa vorgeht, das erkennt er nicht.

Für Lisa ist das eine Bestätigung – seht ihr, denkt sie, gar nicht so schlimm. Außerdem hasst sie es, zur Last zu fallen. So ist sie einfach. So ist sie auch jetzt, beim „Move“. Ich krieg das schon alleine hin, denkt sie. Wie immer, wie alles. Klar, für sie selbst ist die Party gestorben. Sie schafft es nicht. Aber für die anderen? Hey, Leute! Genießt es!

Auf dem Weg ins Krankenhaus

Sie genießen es nicht. Während sie feiern, verschlimmert sich Lisas Lage. Sie verschlimmert sich extrem. Lisa denkt, sie muss sich übergeben, bricht auf dem Weg zur Toilette zusammen. Schwere Krämpfe wühlen in ihrem Bauch. Sie kann sich kaum noch bewegen. Ihr Atem stockt. Sie hat Todesangst. Alles fühlt sich falsch an. Sehr falsch.

Als sie kurz ein wenig Luft bekommt, nimmt sie sich ihr Handy. Schreibt ihre Freunde an. Dass es ihr schlecht geht. Dass sie sie braucht, jetzt, sofort. Dass sie ins Krankenhaus will. Wenige Minuten, dann sind ihre Freunde da. Setzen einen Notruf ab.

Was dann passiert, weiß Lisa nur noch in Bruchstücken. Irgendjemand spricht sie an, mehrfach. Vielleicht ein Rettungsassistent, vielleicht der Notarzt. Ja, der Notarzt wohl. Aber sprechen kann Lisa da schon nicht mehr; zu mächtig, zu erdrückend ist der Schmerz. Ihre Freunde sprechen für sie, erklären, organisieren.

Auch der Notarzt erkennt nicht, was vorgeht. Nierensteine denkt er, Gallensteine. Im Rettungswagen schreit Lisa vor Qual. Was mit ihr passiert, ist ihr in diesem Moment egal, Hauptsache der Schmerz hört auf. Lisa wird sediert, gleitet weg ins Nichts. Schwärze.

An die Fahrt in die Klinik hat Lisa keine Erinnerung. Auch nicht an die Ankunft in der Notaufnahme, an die ersten Untersuchungen. Auch nicht an die Einlieferung auf die Intensivstation. An gar nichts mehr. Da sind keine Raumeindrücke. Da sind keine Stimmungen, keine Gesprächsfetzen. Da ist nichts.

Lisa wird ins künstliche Koma gelegt. Fünf Tage lang, dann werden die Narkosemittel zurückgefahren.Lisa weiß nicht, wie schlimm es um sie steht. Weiß nicht, dass sie einen septischen Schock hat, durch Bakterien, Meningokokken.

„Dass sie ein multiples Organversagen hat ... Dass sie wiederbelebt worden ist. Dass sie ihre Milz verliert. Als sie es erfährt, droht schon neues Unheil.“

 

Zwei Tage

Lisa wacht auf. Das erste, was sie wahrnimmt, ist die Uhr gegenüber ihres Bettes. Aber etwas ist seltsam an ihr. Sie zeigt Lisa nicht die Zeit. Vor ihrem Fenster wechseln Helligkeit und Dunkelheit, aber die Uhrzeit weiß Lisa nie. Mal ist es 11 Uhr, mal 4 Uhr. Sie wacht auf, schläft ein, wacht wieder auf, schläft wieder ein. Surreal fühlt sich das an, verwirrend. Schwer, sich wieder mit der Welt zu verknüpfen.

An Menschen erinnert sie sich dabei nicht. Nicht an das Pflegepersonal, nicht an die Ärzte. Sie sind da, sie kämpfen um sie. Natürlich sind sie das. Sie sind ihre Verbündeten im Kampf gegen den septischen Schock. Aber das weiß Lisa nicht.

Ohne es zu wissen, steht Lisa vor der größten Prüfung ihres Lebens. Der erste Hinweis, dass etwas Schlimmes mit ihr geschieht, etwas wirklich Schlimmes, sind ihre Blutwerte.

„Aber Lisa ist weit fort.“
 

Zwei Tage dauert es,bis Lisa wieder bei vollem Bewusstsein ist.

Lisa erwacht endgültig. Das erste, was sie sieht, ist ihre Mutter. Wie sie neben ihrem Bett steht, Tränen in den Augen. Lisa spürt, wie beruhigend das ist.

Ihre Mutter sagt etwas, fragt etwas, aber antworten kann Lisa nicht. Nur Lippenbewegungen sind möglich, der Tubus ist im Weg. Am selben Tag kommt ihre Familie zu Besuch. Auch ihr Vater. Auch ihre Geschwister. Das Reden erschöpft Lisa. Aber sie ist glücklich. Jetzt wird alles gut.

 

Nachts hat Lisa Alpträume. Sobald sie die Augen schließt, bedrängen sie rote und schwarze Gestalten. Lisa soll ihnen folgen, wird von ihnen gestoßen, gezerrt, geführt, auf einen schwarzen Abgrund zu, ein schwarzes Loch. Die Gestalten sind gesichtslos. Hinter ihnen ist alles rot, wie von den Flammen der Hölle.

Was der Abgrund verbirgt, erfährt Lisa nie. Sie wacht vorher auf. Jedesmal. Aber der Alptraum wiederholt sich. Nacht für Nacht. Erst als die Medikamente abgesetzt werden, hat Lisa wieder normale Träume.

Die Pflegekräfte wissen um ihre nächtliche Not. Tun können sie nichts dagegen. Aber sie sind nett.

 

„... rote und schwarze Gestalten. Lisa soll ihnen folgen, wird von ihnen gestoßen, gezerrt, geführt, auf einen schwarzen Abgrund ...“

Ein Pfleger putzt ihr am Morgen und am Abend die Zähne. Irgendwann fragt Lisa ihn, ob er ihr die Haare waschen kann. Er kann. Das warme Wasser tut unendlich gut. Der Pfleger gießt es aus einem Becher.

„Auch wenn Lisa wach ist, lebt sie in einem Alptraum.“


Ihr Körper ist mit Wunden bedeckt; Wassereinlagerungen durch die lange Liegezeit. Lisa hat Schmerzen. Große Schmerzen, trotz der Medikamente.

 

Aber ihre Familie ist bei ihr, ihre Freunde sind bei ihr. Ihre Mutter massiert ihr die Beine, cremt sie ein. Eigentlich geht es mir doch gut, denkt Lisa. Zwei, drei Wochen noch, dann ist alles vorüber. Dann ist alles vergessen. Dann ist alles wieder beim Alten.

„... Aber es wird nie wieder alles beim Alten sein. Lisas Unterschenkel und Füße sind schwarz ...“


Ihre rechte Hand ist es auch. Nekrosen. Eine Nebenwirkung des Noradrenalins, das sie vor der Sepsis rettete.

 

Familie und Freunde realisieren weit vor Lisa, was das bedeutet. Erst am Ende ihrer Zeit auf der Intensivstation erfährt sie es selbst von den Ärzten: Es gibt nur eine Möglichkeit: Amputationen. Und...

„... die Entscheidung darf nicht warten, sonst droht eine zweite Sepsis. Ihre Hand lässt sich retten, ihre Beine nicht.“


Lisa ist geschockt. Hatten die Ärzte nicht so positiv geklungen? Nein, erkennt sie. Wunschdenken, nichts weiter – das war, um sie zu schonen. Immer hatten noch Tests gefehlt, angeblich. Gestern dieser, heute jener. Was sie schonen sollte, versetzt ihr nun einen harten Schlag: Warum hat man ihr Hoffnung gemacht, wo keine war? Die Stimmung ihrer Besucher ist gedrückt.

 
„Lisa versucht, die Angst der Familie und Freunde wegzulächeln. Ihre eigene Angst auch. Mir geht es doch gut, denkt sie kurz, immer noch.“

Ich mache doch Fortschritte, ich komme doch wieder auf die Beine. Auf die Beine! Lisa weiß, dass das nicht stimmt.
Ihre Beine sehen nicht nur tot aus, die sind es auch. Im Grunde gehören sie schon jetzt nicht mehr zu ihr und einen zweiten septischen Schock darf sie nicht riskieren. 1 Prozent war ihre Überlebenschance beim Ersten. Wie groß würde sie beim Zweiten sein?
Lisa sieht sich ihre Füße an. Das hat sie lange nicht getan, wegen einer Ahnung vielleicht. Ihr wird klar, was geschehen muss – da ist kein Spielraum mehr.

Nichts ist selbstverständlich

Die Wochen in der Reha sind nicht einfach. Zweieinhalb Wochen Intensivstation hat Lisa hinter sich. Zwei Operationen, nur 10 Tage dazwischen. Und jetzt das: Gehen lernen. Den ersten Schritt, nach Monaten des Liegens, macht sie zwischen den Holmen eines Barrens. Ein Orthopädietechniker erklärt und lobt, nimmt ihr die Angst, die Unsicherheit. Ein zweiter stützt ihre rechte Hand, sie hat noch keine Kraft. Zweimal schafft Lisa es hin und her, dann versagt ihr der Kreislauf.

 
„... zweimal schafft Lisa es hin und her, dann versagt ihr der Kreislauf ...“

Es sieht so einfach aus, und es ist doch so schwer, ihre Muskulatur fehlt, Lisa hat seit Monaten nicht mehr gestanden. Aber sie kämpft sich durch. Gegen die Schmerzen der Stümpfe. Gegen die Phantomschmerzen. Und ein Gedanke kreist in ihr: Was kommt danach? Wie wird er aussehen, ihr neuer Alltag? Lisa hat Angst, Angst davor, nicht in der Lage zu sein, für sich zu sorgen. Aber zugleich ist da dieses unbändige Gefühl: Es geht voran! Lisa beginnt die Welt wieder mit anderen Augen zu sehen. Und sie lässt sich nicht entmutigen. Nach fünf Tagen läuft sie das erste Mal ohne Stützen.

 

Den Ärzten geht das zu schnell, viel zu schnell. Aber Lisa will wieder laufen. Und Lisa läuft. Und lernt dabei, dass Selbstverständlichkeiten Trugbilder sind.

Zurück ins Leben

Lisa hat durch ihre Sepsis viele Härten erlebt. Härten, an denen sie hätte zerbrechen können. Sie ist nicht zerbrochen. Sie ist gewachsen, und jetzt ist sie bereit für den Aufbruch in eine neue Zukunft. Es ist eine Zukunft vieler Träume, Wünsche und Ziele. Früher war Lisa selten zufrieden mit sich selbst, selten geerdet im Hier und Jetzt. Heute weiß sie, was ihr wirklich wichtig ist im Leben. Wie gut es tut, jeden Augenblick zu genießen, in Achtsamkeit für sich selbst.

Noch immer kann sie mit der rechten Hand vieles nicht festhalten. Aber das wird, sagt sie sich. Immerhin kann sie jetzt schon mehrere Seiten schreiben, ohne Pause. Die Stärke, die sie gegen ihr Kranksein beweist, verleiht ihr neues Selbstbewusstsein, und heute ist Lisa lebensmutiger, lebensfroher als je zuvor. Aus einem Menschen, der vorher oft negativ dachte, wird ein Optimist. Durch den Tod, aus dem sie zurückkehrt.

 

Anfangs will Lisa einfach nur ihr altes Leben zurück – das bleibt nicht lange so. Lisa weiß jetzt: Auch im Schlimmen kann Gutes liegen. Sie definiert ihr Leben neu, und es ist kein Leben, das sie einschränkt. Lisa studiert heute Ökotrophologie. Sie wünscht sich einen Nebenjob in der Gastronomie, denn das liebt sie. Sie hat eine neue Wohnung, barrierefrei. Es macht ihr nichts, wenn andere ihre Prothesen sehen. Sie nimmt sich an, wie sie ist. Mag sich, wie sie ist. Nicht viele Menschen tun und können das. Lisa schon.

Für Lisa ist ihre Lebenszeit heute wertiger denn je. Sie weiß, was es bedeutet, wenn jemand da ist, der einen auffängt, wenn du fällst. Sie weiß, was wahre Freundschaft ist, was wahrer Mut bewirkt. Sie hat kein eigenes Pferd mehr, aber sie hat sich bewiesen, dass sie wieder reiten kann, wenn sie will. Sie macht Waldspaziergänge, will eines Tages auf Skiern stehen, auf einem Snowboard. Nein, Lisa ist nicht zerbrochen. Sie hat sich aufgerichtet. Zu neuer Größe.